Prof. Dr. Wilhelm Damberg, Bochum:
Kritik: Katholische Arbeiter und Widerstand gegen den Nationalsozialismus
aus: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 31/2004, S.323-326
Erst die Seligsprechung von Nikolaus Groß durch Papst Johannes Paul II. am 7. Oktober 2001 hat einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein geführt, dass auch katholische Arbeiter aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet an den Vorbereitungen Tür einen gewaltsamen Sturz der nationalsozialistischen Diktatur im Sommer 1944 beteiligt waren und nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 dem Terror-Apparat zum Opfer fielen. Und obgleich die historische Rekonstruktion der Vorstellungen und Aktivitäten dieser Widerstandskreise wohl zu den ältesten Forschungsschwerpunkten der Zeitgeschichte überhaupt gehört, überrascht der Befund, wie lange diese Arbeiter in den Darstellungen und Studien zum 20. Juli 1944 eher am Rande oder gar keine Erwähnung fanden. Um so bedeutsamer ist, dass jetzt endlich eine wissenschaftliche Biographie des l898 in Niederwenigern bei Bochum geborenen Nikolaus Groß vorliegt, der wegen seiner Mitwirkung am missglückten Umsturzversuch am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensce hingerichtet wurde.
Das Buch enthält zunächst einen persönlich gehaltenen Essay von Alexander Groß, dem Sohn des Hingerichteten, zu den Briefen aus dem Gefängnis: "Zeugnis in schwieriger Zeit". In ihm wird u. a. auch die Frage des damaligen und gegenwärtigen Umgangs der Kirchenführung mit dem Martyrium thematisiert (13-33). Es folgt der Abdruck von sieben ausgewählten Quellen zur Biographie von Groß zwischen l930 und 1945 (34-43). Daran schließt sich die eigentliche biographische Darstellung an. Nikolaus Groß arbeitete zunächst als Arbeiter in einem Blechwalzwerk, dann als Bergmann, bevor er - schon seit 1917 Mitglied im Gewerkverein christlicher Bergarbeiter - seit 1920 als hauptamtlicher Sekretär für eben diese Gewerkschaft tätig wurde, zunächst in Oberhausen, dann in Essen und Bottrop. 1927 wechselte er dann als Redakteur zur Westdeutschen Arbeiterzeitung, dem Verbandsorgan der Katholischen Arbeiterbewegung Westdeutschlands, eine Funktion, die er bis zum Verbot dieser Zeitung im Jahre 1939 beibehielt. In den folgenden Jahren war er - vom Wehrdienst wegen gesundheitlicher Probleme freigestellt - mir dem Verfassen von Gelegenheitsschriften, Broschüren und Vortragstätigkeiten für diesen Verband befasst, was ihm zugleich die Möglichkeit bot, umfangreiche Kuriertätigkeiten für diverse Widerstandskreise zu übernehmen.
Minutiös hat die Verfasserin seinen Lebensweg nachgezeichnet, der hier nicht im Einzelnen zu referieren ist. Erkennbar wird jedoch, wie sehr Groß zunächst ein Kind des katholischen Arbeiter-Milieus war - Kirche, Arbeiterverein und Deutsche Zentrumspartei waren die Bezugspunkte seiner Biographie, seines Denkens und Handelns. wobei er sich offenbar allerdings nicht durch eine besondere Originalität in seiner Vorstellungswelt auszeichnete. In .der Weimarer Republik kämpfte er für die soziale Gleichstellung der Arbeiterschaft - in der Gesellschaft im Allgemeinen, aber auch innerhalb des Zentrums -, billigte eine praktische Zusammenarbeit mit der SPD, hielt ihr aber gleichzeitig Religionsfeindschaft vor und gab im Zweifel den kirchlichen Interessen Vorrang vor politischen: "Er bewies sich als hundertprozentiger Mann der Kirche" (87). Er attackierte die im Aufwind befindlichen Nationalsozialisten heftig, überschätzte aber - wie viele andere - Hugenbergs Gewicht (88); alle Hoffnungen wurden auf Brüning gesetzt und dessen Politik "durch dick und dünn" (96) unterstützt. Grundsätzlich galt ihm bei der Beurteilung des Zentrums und der Demokratie überhaupt als "Maßstab" das "Wohl der Arbeiterschaft". Nur in der Demokratie sah er eine Gewähr dafür, die Interessen der Arbeiterschaft durchsetzen zu können (104). Das vorübergehende Scheitern des Parlamentarismus wurde akzeptiert, um einen "Kern der Demokratie, zu dem für ihn die Rechte der Kirche und der Arbeiterschaft zählen", zu retten (107).
Von 1933 bis 1938 konzentrierten sich die Aktivitäten Groß' auf die Redaktionstätigkeit für die Westdeutsche Arbeiterzeitung, die 1935 zur Kettelerwacht umbenannt wurde. Dieser Teil der Biographie beginnt mit einem allgemeinen Exkurs zum Verhältnis von Kirche, Milieu und Nationalsozialismus. ... Im Folgenden schließt sich dann eine detaillierte Auswertung der inhaltlichen Linie der Zeitung an, die von Groß verantwortet wurde. Dies geschieht zugleich unter ständigem Blick auf die allgemeinen Rahmenbedingungen. Offenbar kommt die Autorin hier zu einem durchaus kritischen Urteil: Ohne dass seine persönliche grundsätzliche Ablehnung des Nationalsozialismus jemals zur Debatte gestanden hätte, agierte Groß sehr vorsichtig und ließ in einem vertraulichen Schreiben an Freunde erkennen, dass er sich bemühe, den Lesern "ohne jeden Hintergedanken (...) eine in Form und Inhalt positive Zeitschrift zu bieten" (l30). Dass diese redaktionelle Linie ein "Balanceakt" (162) war, liegt auf der Hand. Vor allem ging es Groß in seiner Zeitung um "Kirchentreue" (l65): Die Ablehnung des Nationalsozialismus richtete sich nach dem Maß der Gefährdung des Glaubensgutes, nicht nach der Relevanz für den Bestand der NS-Herrschaft (166). Groß war noch 1938 nicht unbedingt an einer deutlichen Auseinandersetzung seines Blattes mit dem Regime gelegen (168).
Nach der Einschätzung der Autorin setzte dann während des Krieges eine entscheidende Wende ein, wobei sie aufgrund der im Vergleich zu anderen Personen im Umfeld des 20. Juli ungünstigen Quellenlage zahlreiche verstreute Hinweise zusammenfügt. Entscheidend war - so deutet die Autorin an - die Begegnung mit dem Jesuiten Alfred Delp, dem Groß als Teilnehmer an Seelsorgekonferenzen zur ,Männerseelsorge' begegnete. Dieser ließ den bis dahin unauffällig agierenden Verbandsfunktionär "über den katholischen Tellerrand" schauen (179): "Der Einfluss Delps lenkte seine Aufmerksamkeit auf die politische Verantwortung aus dem Glauben heraus und machte ihn mit der Existenz und dem Wirken des ostdeutschen Kreisauer Kreises bekannt" (181). Bald nahm Groß eine wichtige organisatorische Vermittlungsfunktion zwischen Kreisau, Goerdeler und einem Kölner Kreis wahr, der überwiegend aus Katholiken bestand und sich regelmäßig in der Verbandszentrale der KAB und auch bei Groß privat traf. Welche inhaltlichen Vorstellungen Groß in den damaligen Planungen entwickelte, ist mangels Quellen nicht ohne weiteres erkennbar, zumal er nicht als origineller Theoretiker auffiel. Die Verfasserin sucht dieses Problem dadurch zu klaren, dass sie die von anderen Akteuren in Köln entwickelten Vorstellungen entfaltet und Groß hier einzuordnen sucht (195-212).
Ein besonderes biographisches Problem ergibt sich daraus, dass Groß nie explizit begründet hat, warum er sich überhaupt dem politischen Widerstand anschloss (220), was angesichts seines Naturells und der unter Katholiken ganz allgemein hochgehaltenen Treuepflicht gegenüber dem Staat kein leichter Schritt gewesen sein kann. Offenbar handelte es sich - so entnimmt die Autorin einem Text über "Glaubenswahrheiten" aus dem Jahre l943 und anderen Äußerungen - bei ihm um eine Verquickung von religiösen und nationalen Motiven. So formulierte er am 19. Juli 1944 im Gespräch: "Wenn wir heute nicht unser Leben einsetzen, wie wollen wir dann vor Gott und unserem Volke einmal bestehen?" (219f). Seine Einsicht, "dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen" (221), gehörte allerdings zum allgemeinen Katechismuswissen - der kritische Punkt war freilich in der Theologie seit Augustinus immer schon, dass der katholische Christ im Zweifel über den Charakter eines Befehls der Gehorsamspflicht den Vorzug zu geben hatte, und nur im Falle moralischer Gewissheit, dass dieser Befehl gegen Gottes Willen verstoße, zum Ungehorsam verpflichtet war. Wann dieser Punkt genau für ihn gekommen war, lässt sich bei Groß aufgrund der Quellenlage wohl letztlich nicht mehr ausmachen. Wenn jedenfalls in der Zusammenlassung des Buches erklärt wird, Groß habe erkannt, dass "die Belange der Kirche nur politisch gegen den NS-Staat mit seinem totalitären Anspruch und nicht durch Kompromisse mir ihm verteidigt werden konnten", sowie das "Wissen um die NS-Verbrechen im Osten und die Judenverfolgung" habe den Entschluss gefestigt, politisch am Sturz des NS-Regimes mitzuwirken, so bleibt dies für den Leser durch die dargestellten Quellen unbelegt (24l). Zurückhaltender äußert sich auch W. Loth in seinem Vorwort (l1).
Die erste wissenschaftliche Biographie zu Nikolaus Groß ist zugleich ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der katholischen Arbeiterschaft im Rheinland und im Ruhrgebiet. Sie führt, gerade weil Groß kein origineller Denker war, in die Lebens- und Gedankenwelt seines Milieus hinein, und sie lässt erkennen, welche Weichenstellungen in diesem Kreis während der Diktatur erfolgten, die dann den Neubeginn nach 1945 prägten. Vielleicht wäre es der Biographie zugute gekommen, wenn ein hoffentlich breiterer Leserkreis einleitend noch etwas mehr über diese untergegangene Welt erfahren hätte, und zwar im Kontext der Sozialgeschichte des Ruhrgebiets insgesamt, das ja eigentümliche konfessionelle Strukturen aufwies, die es von anderen industrialisierten Regionen Deutschlands unterschieden. Aber es ist zuzugeben, dass die Forschung hinsichtlich der Geschichte der Katholiken im Ruhrgebiet noch manches zu dokumentieren hat. Vielleicht kann ja diese Biographie auch dazu anregen, dem historischen Umfeld von Nikolaus Groß noch weiter nachzugehen. ...
Wilhelm Damberg