Rezension von Michael Zimmermann
in: Forum Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 1/2005, S.99f
Nikolaus Groß (1898-1945), ein führendes Mitglied der Katholischen Arbeiterbewegung (KAB), stand als Gegner des Nationalsozialismus seit 1942 mit dem Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke und mit der Berliner Widerstandsgruppe um Carl Goerdeler in Kontakt. Nach dem gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet, im Januar 1945 vom Volksgerichthof zum Tode verurteilt und hingerichtet. 2001 würdigte die katholische Kirche Nikolaus Groß' Engagement mit seiner Seligsprechung. Gerade angesichts der sehr heterogenen und bisweilen recht problematischen kirchlichen Praxis der Heilig- und Seligsprechung sollten auch Nichtkatholiken dies als ein Zeichen verstehen, mit dem das Engagement gegen diktatorische Regimes und für Arbeiter- und Menschenrechte aus christlicher Verantwortung akzentuiert wird.
Vera Bücker zeichnet in ihrer sorgfältig recherchierten Biographie zunächst den Lebensweg des in Niederwenigern geborenen Nikolaus Groß vom Jungarbeiter und Kohlenhauer auf der Zeche "Dahlhauser Tiefbau" zum Sekretär der Christlichen Gewerkschaften nach, als der er bis 1927 im Ruhrgebiet und anderswo wirkte. Seither war er Hauptschriftleiter der Westdeutschen Arbeiterzeitung (WAZ), des Verbandsorgans der westdeutschen KAB. Katholische Arbeiterbewegung, Christliche Gewerkschaften und das Zentrum, das als konfessionelle Volkspartei jedoch sehr verschiedene gesellschaftliche Interessen zu integrieren hatte, bildeten vor 1933 die Säulen des sozialen Katholizismus.
Groß verhehlte nicht seine tiefe Abneigung gegen die aufkommende NSDAP, die er als kriegstreiberisch, diktatorisch und arbeiterfeindlich, vor allem aber als antichristlich einschätzte. Diese Dominanz des Religiösen bezeichnet zugleich eine charakteristische Barriere, die gerade in der Ära des von Groß bedingungslos unterstützten Reichskanzlers Heinrich Brüning einem engeren Zusammengehen des Zentrums mit der SPD im Wege stand. In jener katholischen Denktradition verhaftet, die Moderne und Aufklärung mit einer Zerstörung der Religion gleichsetzte, stellte nicht nur Groß Nationalsozialismus, Kommunismus und Sozialdemokratie als Derivationen eines säkularen Liberalismus ideologisch auf eine Stufe.
Nach 1933 wurden Groß' journalistische Arbeitsmöglichkeiten, die im Buchkapitel "Redakteur im Dritten Reich" dargelegt werden, zunehmend eingeschnürt. 1938 kam das definitive Aus für die WAZ. Auch die Broschüren, die Groß edierte, mussten eingestellt werden, da der KAB 1941 die Papierzufuhr gesperrt wurde. Seit Herbst 1939 leitete Groß kommissarisch die Düsseldorfer KAB, deren Sekretär zur Wehrmacht eingezogen war. Diese mit Vortragsreisen verbundene Tätigkeit und die Vertretung der KAB beim Jahrestreffen der katholischen Männerseelsorge in Fulda ließen ihn Kontakte zum politischen Widerstand knüpfen. So trat er 1942 in Fulda in Verbindung zum Jesuitenpater Alfred Delp, der dem Kreisauer Kreis angehörte. Über Bernhard Letterhaus, Verbandssekretär der westdeutschen KAB und inzwischen Hauptmann der Abwehr im OKW, wurde Groß zeitgleich an die Widerstandsgruppe um Carl Goerdeler herangeführt, deren gewerkschaftlichem Flügel Letterhaus angehörte. Damit gewann der Widerstand Vertrauenspersonen im Westen des Reiches, wo die protestantisch-preußischen Hitlergegner aus der Reichshauptstadt kaum verankert waren. Unter dem Vorzeichen der einenden NS-Gegnerschaft, aber auch des auf eine deutsche Niederlage zusteuernden Krieges öffneten sich so die traditionellen Milieugrenzen zwischen rheinisch-westfälischem Katholizismus und konservativem, preußisch-protestantischem Bürgertum einerseits und sozialistischer Arbeiterbewegung andererseits. Groß hatte daran als Kurier und Organisator erheblichen Anteil. Er beteiligte sich zudem an den konzeptionellen und personellen Überlegungen zur Neugestaltung Deutschlands. Seine Widerstandsmotivation lag darin, dass er dem Christentum eine gesellschaftsgestaltende Aufgabe zuwies und Ungehorsam gegen einen Staat, der gegen Gottes Gebot oder, kantianisch formuliert, gegen das Sittengesetz verstieß, mehr und mehr als Pflicht empfand.
Dies stellt die Autorin im zentralen Kapitel ihres Buches dar, das Nikolaus Groß als Mitglied des "Kölner Kreises" porträtiert. Nicht zuletzt das Echo, das ihre Ausführungen bei Hans Mommsen, dem Doyen der Forschung zum 20. Juli 1944, gefunden haben, zeigt, dass es sich hier um die wohl wichtigste Untersuchung der letzten Jahre zum deutschen Widerstand handelt. Vera Bücker widmet sich einem Netzwerk, das sich primär aus Repräsentanten des sozialen Katholizismus zusammensetzte. Für diese Gruppe, die nach anfangs rein innerkirchlichen Erörterungen ihre Diskussionen zunehmend politisierte, findet sie den Namen "Kölner Kreis", da man sich um das Kölner Kettelerhaus, das Vereinshaus der westdeutschen KAB, zentrierte. Der Schwerpunkt der dortigen Überlegungen für die Zeit nach dem Nationalsozialismus lag auf sozial- und wirtschaftspolitischem Gebiet. Man favorisierte ein weitreichendes Sozialisierungsprogramm, war jedoch unterschiedlicher Ansicht darüber, ob der Marktwirtschaft oder einer gelenkten Bedarfsdeckungswirtschaft der Vorzug gebühre. Mit Blick auf den Staatsaufbau verfocht der Kölner Kreis, im Unterschied zu den eher autoritären Leitbildern in Kreisau und Berlin, die Vorstellung eines eher demokratischen Parteienstaates. Für das eigene Engagement konkurrierten als Modelle eine überkonfessionelle Partei der Arbeit nach dem Vorbild der Labour Party, in der christliche und sozialistische Arbeiter zusammenkommen sollten, und eine interkonfessionelle christliche Volkspartei, wie sie 1945 mit der CDU realisiert wurde, während das Labour-Modell einen der Paten für die spätere Einheitsgewerkschaft abgab.
Michael Zimmermann (Essen)